Erving Goffman, ein Klassiker der amerikanischen Soziologie, hat in den späten 1950er Jahren untersucht, wie die Menschen seiner Zeit den Eindruck, den andere von ihnen haben, beeinflussen. Seine These: Alle Menschen spielen auf ihre ganz eigene Art und Weise Theater. In der Öffentlichkeit nehmen sie selbstverständlich Rollen ein und wollen so ihr Gegenüber von den eigenen Fähigkeiten überzeugen.
Heute, mehr als sechzig Jahre später, hätte Goffman seine Freude an der täglichen digitalen Selbstdarstellung gehabt, die wir von klein auf einüben. Die meisten kennen heutzutage Profile in sozialen Medien, sie schaffen ein Bild von sich selbst – mit Fotos, mit Geschichten, mit Werten, mit beruflichen oder schulischen Erfolgen, mit sichtbar gemachten Freundschaften und mit vielem mehr. Die Mechanismen sind gleichgeblieben, geht es doch nach wie vor um die Kontrolle darüber, wie die Menschen um uns herum uns sehen.
Wehe, das Bild bekommt Risse. Eine falsche Bemerkung wird tausendfach geteilt und ein unvorteilhaftes Foto hundertfach kommentiert. Die selbsternannten Kritikerinnen und Kritiker sind schärfer geworden. Vor allem sind es mehr Menschen, die eine Meinung zur eigenen Darstellung äußern. Nicht nur ein großer Bruder schaut zu, bei allem, was auf der Weltbühne unternommen wird, sondern ganze globale Städte.
Mitten im Publikum sitzt einer, der aus der Reihe fällt. Irgendwie scheint sein Blick von anderer Qualität zu sein. Er schaut nicht auf das, was vor Augen liegt, sondern wagt einen Blick hinter die Kulissen der Selbstdarstellung. Hier kann dieser Eine etwas vom echten Menschen erspähen, verletzlich, unperfekt, manchmal auch mit einer Geschichte, die sie oder er am liebsten aus dem eigenen Leben gestrichen hätte.
Schon bei der Vorstellung, dass es so einen Zuschauer geben könnte, spürt manch ein Selbstdarstellungskünstler ein Unwohlsein in der Magengrube. Denn alle mühsam erworbenen Techniken zur Selbstinszenierung fallen in sich zusammen, wenn der Blick die Masken der Inszenierung durchbricht.
Doch woher kommt dieses Unwohlsein? Ist es die Erfahrung, am digitalen Pranger gestanden zu haben? Ist es die eigene Erkenntnis, wie weit das öffentliche Bild und die eigene empfundene Wirklichkeit voneinander entfernt sind? Sind es Erinnerungen an vernichtende Urteile, an eigenes Scheitern, die Menschen so versessen auf das perfekte Bild machen?
Die Jahreslosung für das Jahr 2023 aus dem ersten Buch der Bibel erinnert mich daran, dass im Publikum wirklich einer sitzt, der mich so sieht, wie ich bin – vielleicht sogar so, wie ich mich selbst bisher nur unscharf in den Blick nehmen konnte. Die Rede ist von Gott und von seinem Blick auf mich und auf dich.
„Du bist ein Gott, der mich sieht“, das kann Hagar, die Magd von Abraham sagen, als sie dabei ist, vor dem eigenen Leben wegzurennen. Eben noch stand sie im Mittelpunkt, war die Hoffnungsträgerin für Abraham und Sara, das kinderlose Paar. Doch als sie schwanger wurde, passte ihr Erfolg nicht mehr in die Welt von Abraham und Sara. Hagar wurde gedemütigt und so schlecht behandelt, dass sie die Flucht in die Wüste ergriff. Für Hagar hätte dieses unwirtliche Land den sicheren Tod bedeutet. Doch in diesem Moment schaut Gott sie an und eröffnet ihr einen Weg zurück ins Leben. Gott sieht den wahren Menschen und schaut da-bei mitten ins Herz. Und so kann Hagar wieder zurück zu Abraham und Sara gehen. Die Machtkämpfe halten dort an, aber Hagar hat Gottes Ja zum Leben gespürt und weiß sich von diesem Moment an angesehen. Auch wenn sie später wieder in die Wüste zieht und dort mit ihrem Sohn ein neues Leben anfängt, bleibt dieser eine Zuspruch Lebenskraft – für immer.
„Du bist Gott, der mich sieht“ – dieser Vers soll uns im Jahr 2023 Begleiter sein. Dabei geht es nicht um einen strafenden und überwachenden Blick. Das hat das Beispiel von Hagar gezeigt. Gott sieht dich und mich auf eine Weise, die den Weg ins Leben immer wieder neu eröffnet. Wo Gott dich ansieht, da sieht Gott dein Leben, wie es sein kann. Wie ein Bildhauer in einem unbehauenen Stein die Umrisse einer wundervollen Statue erkennt, hat Gott die schöpferische Phantasie, um das Wunder-bare zu sehen, das in deinem Leben noch vor dir liegt.
Gott sieht dein wahres Leben an und so wirst du zum angesehenen Ge-schöpf, über das Gott sagen kann: Du bist mir so wertvoll wie eine Tochter oder ein Sohn. In diesem Moment dürfen wir die Masken des sozialen Theaters fallen lassen und voll Vertrauen auf Gottes Ansehen selbst angesehen sein. Von da an kommt es nicht mehr auf die Zahl der Follower an. Die Zahl der Likes ist von nun an nicht mehr entscheidend für ein gelungenes Leben.
Ich freue mich, wenn wir uns im kommenden Jahr sehen, wenn sich Begegnungen ergeben, in denen die äußere Fassade nicht mehr wichtig ist. Vor allem aber setze ich auf Gott, der Sie und dich ansieht. Möge das zu einer tröstenden und entlastenden Erfahrung im neuen Jahr werden, auf dass wir ihm am Ende des Jahres zurufen können: „Du bist ein Gott, der mich sieht!“
Ein gesegnetes Jahr 2023 wünscht Ihnen und euch
Pfarrer Till Schümmer